19 Jan Bleiben die großen Innovationen aus?
Bruno Lindorfer und Sascha Sardadvar, 19. Jänner 2023.
Eine der offenen Fragen der Makroökonomik betrifft die seit Jahrzehnten zu beobachtende Verlangsamung des Produktivitätswachstums (Produktivität = Arbeitsstunden / BIP) in den etablierten Industriestaaten, darunter Österreich. Dazu gibt es verschiedene Hypothesen, bis hin zur Frage der Messung selbst. Eine Hypothese, die zunehmend Aufmerksamkeit erhält, geht von einem abnehmenden Grenzertrag von F&E aus. Es wird zwar immer mehr in F&E investiert, aber auch außerhalb der Makroökonomik verstärkt sich der Eindruck, dass die großen Innovationen ausbleiben, darunter solche, die alten Vorhersagen zufolge längst existieren sollten: Fusionsreaktoren, AIDS-Impfung, selbstfahrende Autos…
In einem kürzlich in Nature erschienen Artikel stellen Michael Park, Erin Leahey und Russel J. Funk in umfassenden, quantitativen Analysen von 25 Millionen wissenschaftlichen Publikationen sowie 3,9 Millionen Patenten im Zeitraum 1945‑2010 fest, dass der Anteil disruptiver Innovationen seit 1950 deutlich gesunken ist und weiter sinkt. Das bedeutet, dass es seit 1950 eine Verlangsamung im Technologietransfer gibt, womit die Umsetzung von Grundlagenforschungsergebnissen in innovative Waren und Dienstleistungen gemeint ist. Anders formuliert: Man braucht immer mehr Einsatz, um zum gleichen Innovationsgrad zu gelangen.
Man könnte das Phänomen auch als Verlängerung der Zeiträume von einem Kondratjew‑Zyklus zum nächsten bezeichnen. Der Ökonom Kondratjew fand, dass grundlegende, neue technische Erkenntnisse massive, positive Wachstumszyklen auslösen können (die Kondratjew‑Zyklen) und zu einer längeren Phase steigender Produktivität und im Idealfall auch Wohlstand führen. Der erste große Kondratjew-Zyklus wurde 1800‑1847 durch die Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst. Der zweite große Kondratjew‑Zyklus wurde 1847‑1893 durch die großtechnische Herstellung von Stahl und die Eisenbahn ausgelöst usw.
In oben genannter Studie versuchen die Autoren und die Autorin, Erklärungen für die Ursachen der Verlangsamung des Technologietransfers von der Wissenschaft in innovative Produkte zu geben, müssen aber konstatieren, dass es keine schlüssige Erklärung gibt und vieles noch im Unklaren liegt. Zusätzlich zu den in der Publikation genannten möglich Ursachen könnten folgende Ursachen für die beobachtete Verlangsamung des Technologietransfers verantwortlich sein:
- Publikations‑„Inflation“: Die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen und Patent‑Anmeldungen steigt seit 1950 permanent stark an, wodurch es für Umsetzer und Entrepreneure immer schwieriger wird, die Spreu vom Weizen zu trennen
- Privatisierung und Kommerzialisierung der Forschung: Wissenschaft und Forschung wird immer mehr zum Geschäft, wo es primär ums Geld geht. Wenn es primär ums Geld geht, geht Umsatz oft vor Qualität, d.h. mehr Masse als Klasse
Eine Lösung des Problems – wenn es denn besteht – ist nicht in Sicht. Zum Beispiel die Frage der Rolle des Staats: In einem Leitartikel zum Thema schreibt der Economist 2013, der Staat solle Unternehmen möglichst nicht im Wege stehen, wenn er Innovationen ermöglichen will. Spätestens seit Mariana Mazzucatos einflussreichen Buchs zur positiven Rolle des Staats im Bereich der Innovationen, das im selben Jahr erschien, wird wieder für eine stärkere Rolle des Staates argumentiert. Keine Zweifel besteht höchstens darin, dass es noch viel zu erfinden gibt.
Links:
- Artikel zur genannten Nature-Studie („Papers and patents are becoming less disruptive over time“): https://www.nature.com/articles/s41586-022-05543-x
- Informationen zu genanntem Buch von Mariana Mazzucato („The Entrepreneurial State: Debunking Public vs. Private Sector Myths“): https://marianamazzucato.com/books/the-entrepreneurial-state
- Genannte Artikel im Economist, Ausgabe 12. Jänner 2013 (kostenpflichtig):
https://www.economist.com/leaders/2013/01/12/the-great-innovation-debate
https://www.economist.com/briefing/2013/01/12/has-the-ideas-machine-broken-down
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